HT 2021: Interpretations of Paul and the Dynamic of Christian-Jewish Interaction in the Later Middle Ages and the Early Modern Period

HT 2021: Interpretations of Paul and the Dynamic of Christian-Jewish Interaction in the Later Middle Ages and the Early Modern Period

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
PLZ
80000
Ort
München
Land
Deutschland
Fand statt
Hybrid
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Von
Rainer Josef Barzen, Institut für Jüdische Studien, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die christlichen Vorstellungen und Verhaltensweisen gegenüber den Juden und dem Judentum durch die Jahrhunderte sind aufs Engste mit den Lehren des Apostels Paulus verknüpft. Dabei bleiben seine Ideen, die die Grundlagen der christlichen Theologie bilden, in Sprache, Begriffen und Ausdrucksweisen tief in der jüdischen Tradition und Ihrer schriftlichen Überlieferung verwurzelt.

In der Auseinandersetzung mit der ersten noch jüdischen Generation der an Jesus glaubenden Gemeinde formulierte er, der selbst ein Jude war, offen negative Urteile über die Juden, das Judentum und die Bedeutung der Thora des Mose. In den letzten Jahrzehnten sind diese bekannten anti-jüdischen Stellungsnahmen in wissenschaftlichen Debatten ausgiebig thematisiert worden. Gleichzeitig ist versucht worden durch eine sogenannte „New Perspective“ den Abstand zwischen seinem eigenen christlichen Verständnis und dem zeitgenössischen Judentum seiner eigenen Sozialisation zu verringern.

Die Sektion widmete sich vor diesem Hintergrund verschiedenen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Interpretationen der Anschauungen und Lehren des Apostel Paulus den Juden und das Judentum betreffend. Hierbei wurden seine im Römerbrief gemachten Äußerungen besonders berücksichtigt. Alle vier Beiträge der Sektion setzten sich mit christlichen Anschauungen über die Rolle der Juden in der göttlichen Heilsökonomie auseinander: mit ihrer Auserwählung in der Vergangenheit, ihrer Rolle in der Gegenwart, und ihrer Bestimmung in der Endzeit. Es wurden dabei verschiedene Lesarten der paulinischen Lehre beleuchtet und deren unterschiedliche Strategien dargelegt. Diese Strategien zeichneten sich vor allem dadurch aus, jene feindlichen Standpunkte zu überbrücken, die Juden und Christen durch die Jahrhunderte hinweg in voneinander entfernte Positionen drängten. Die vier gehaltenen Vorträge präsentierten in chronologischer Reihenfolge einen Spannungsbogen von den theologischen Synthesen der Scholastik des 13. Jahrhunderts bis hin zu judeo-zentrischen Sichtweisen englischer Puritaner des 16. und 17. Jahrhunderts. Drei Vorträge setzten sich mit den Schwierigkeiten auseinander, die sich aus den Massenkonversionen Iberischer Juden zum Christentum während des 14. Jahrhundert ergaben. Diese Massenkonversionen hatten allerdings auch außergewöhnliche Karrieren ermöglicht und bemerkenswerte Stimmen hervorgebracht, wie die von Profiat Duran, Pablo de Santa Maria und António Vieira, wie in den Präsentationen gezeigt werden konnte.

Im ersten Vortrag der Sektion von JEREMY COHEN (Tel Aviv) wurden zunächst die Grundlagen der Fragestellung zu Bedeutung der paulinischen Lehre für die Rezeption der vormodernen Juden und des vormodernen Judentums im abendländischen Christentum gelegt.

Ausgehend von der grundlegenden, bekannten Äußerungen des Paulus, dass das Volk Israel so lange verstockt sei, bis alle Nichtjuden der Welt die christliche Botschaft erlangten, um dann ebenfalls der Erlösung teilhaftig zu werden (Röm 11, 25-26), stellte Cohen die im westlichen Christentum durch die Jahrhunderte diskutierten Fragen und Antworten zur Rolle des Volkes Israel im göttlichen Heilsplans mittels eines Vergleichs vor. Cohen stellte dabei den hochmittelalterlichen, katholischen Interpretationen eines Thomas von Aquin (gest. 1274) eine puritanisch-apokalyptische Sicht eines Thomas Brightman (gest. 1607) gegenüber. Während Aquin in seiner Interpretation einen Ausgleich zwischen den Auslegungen seiner Vorgänger suchte, wagte Brightman aus puritanischer Sicht, die altbekannten Pfade zu verlassen und die Prophezeiungen der Hebräischen Bibel auf die Juden seines eigenen Jahrhunderts anzuwenden.

So beschäftigte sich Aquin in seiner Auseinandersetzung mit der genannten Stelle bei Paulus zunächst mit der Frage, was unter dem Begriff „ganz Israel“ zu verstehen sei, ob nun „alle Juden“, das irdische Volk Israel oder „Juden und Heiden“ gemeint seien. Herbei konsultierte er Äußerungen einiger Kirchenväter (John Chrysostomos, Augustinus), aber auch mittelalterliche Gelehrte wie Abaelard (gest. 1142). Aquin betrachtete die Beschneidung als eine innere Angelegenheit, betonte die Frage der Erwählung, nicht die der Abstammung, als Charakteristikum für das Volk Gottes. Diese Anschauung sah er bestätigt in der bevorzugten Rolle Isaaks, dem jüngeren Sohn Abrahams, gegenüber dem älteren Sohn Ismael. Er betonte die Welterlösung durch Christus, nicht durch die Tora, und vertrat mit seinen Argumenten die bis ins 20. Jahrhundert vertretene Haltung einer Enterbung der Juden durch die Kirche (Supersessionism, Substitutionstheologie). Aquin erwartete, dass das jüdische Volk am Ende der Zeit sich den Christen und ihrer Wahrheit anschließen werde. Die Erlösung würde nach seinem Verständnis dem jüdischen Volk widerfahren, nicht aber allen jüdischen Individuen.

Cohen stellte in seinem zweiten Beispiel der klassischen katholischen Position der Vormoderne eine protestantische Position gegenüber. Dabei muss betont werden, dass es sich hier nur um eine unter mehreren möglichen protestantischen Sichtweisen, eben der puritanischen Interpretation von Thomas Brightman handelte. Bright war erst nach seinem Tod in der puritanischen Welt bekannt geworden als Autor von Schriften zum Buch Daniel, dem Hohen Lied oder der Offenbarung des Johannes. Für das endzeitliche Geschehen habe Brightman dem Volk Israel eine eindeutige Rolle zugewiesen. Im Zentrum des Dramas der Endzeit habe für Brightman das jüdische Volk, seine Sammlung und Wiederherstellung im Land Israel gestanden. In dieser Zeit der Sammlung werde auch Rom (=die römische Kirche) untergehen. Er bezeugte damit Haltungen und Einsichten im englischen Protestantismus, die eine Tradition des englischen Philosemitismus hervorbringen sollten. Für Brightman gehörte zu dieser Wiederherstellung Israels in seinem Land selbstverständlich auch die Anerkennung Jesu als dem Messias des jüdischen Volkes und der Welt. Somit bringe die Vollendung der Wiederherstellung des jüdischen Volkes in der Akzeptanz des christlichen Glaubens eine „Kirche der Juden“ hervor, in der auch die nichtjüdischen Völker ihr Heil fänden. Die Herrscher der nichtjüdischen Völker würden ins jüdische Jerusalem kommen und ihren Respekt bezeugen.

Für beide Interpretationen zur Rolle des Volkes Israel in der Endzeit bleibe festzuhalten, dass sich bei Aquin wie bei Brightman keinerlei Wertschätzung der jüdischen Religion ihrer Zeit nachweisen lasse. Für beide habe das rabbinische Judentum keinerlei Wert oder Bedeutung für die Gegenwart oder die Endzeit.

RAM BEN SHALOM (Jerusalem) stellte mit Isaak ben Mose HaLevi Profiat Duran (gest. 1415) einen jüdischen Konvertiten vor, der sich in seinem literarischen Schaffen stark mit Paulus und dessen Position zum Judentum auseinandersetzte. In dessen Schrift „Klimat ha-Goyim“ (Die Schmach der Heidenvölker), eröffnete dieser eine neue Perspektive zum Verständnis des Christentums, indem er für seine mehrheitlich zwangskonvertierte Leserschaft (anusim) Paulus als einen der Tora treuen Juden darstellte. Nach Ben Shaloms Interpretation wollte Profiat Duran mit seiner Schrift den Conversos seiner Zeit christliche Theologie auf eine Weise näherbringen, die es ihnen ermöglichen sollte, einen Modus vivendi in der Kirche zu finden. So unterschied er die Jünger Jesu von den später hinzugekommenen „Irregeleiteten“, wobei er die späteren christlichen Theologen meinte. In seiner Diskussion zur Göttlichkeit Jesu verwies er auf Paulus. Duran skizzierte Paulus als den theologischen Schöpfer der Christusgestalt, der aber in seinem Leben weiterhin zu den Gesetzestreuen Israels und der göttlichen Tora zu zählen sei. Die von Duran beschriebene Hinwendung von Paulus nach Osten, während seiner Hinrichtung und seiner Gebete in hebräischer Sprache, seinen Tod erwartend, bezeichnete Ben Shalom als „counterconversion“. Durans Werk könne als Katechismus für Conversos verstanden werden. Duran versuchte in seiner Lehrschrift eine weichere Art von Christentum zu zeichnen, das sich vom durch Predigten verkündeten Christentum seiner Leserschaft unterschied. Dieses Christentum solle den inneren jüdischen Glauben der Conversos umarmen, gleichzeitig aber einen Weg aufzeigen wie diese weiter nach außen als Christen leben könnten. Duran wollte die Identität der Conversos durch die Konstruktion des jüdischen Paulus prägen. Nach Ben Shalom war er wohl der erste, der Paulus als gesetzestreuen Juden definierte. Erst nach der Schoah war unter den Protestanten eine solche Interpretation möglich. Nach Ben Shalom war es im Falle von Duran die Massenkonversionen des Jahres 1391, die für ihn eine solche interreligiöse Perspektive möglich machte.

Im dritten Vortrag der Sektion stellte YOSI YISRAELI (Jerusalem) mit Salomo HaLevi alias Pablo de Santa Maria (=Pablo de Burgos) (gest. 1435) einen weiteren jüdischen Konvertiten vor, der sich in seinem literarischen Werk ebenso intensiv mit Paulus beschäftigt hat. Salomon HaLevi war zunächst Rabbiner in Burgos und trat 1391 während der Massenkonversionen zum katholischen Glauben über. Seiner späteren Karriere als Erzbischof von Burgos folgend, wurde er von Yisraeli als „theologischer Konvertit“ bezeichnet, der aus theologischer Überzeugung seine Konversion vollzog und vertrat.

Als Pablo de Burgos sei sein Name Programm gewesen. Er sah sich und den Apostel Paulus als jüdische Konvertiten, die sich von der falschen Religion abgewendet und der wahren Religion zugewendet hätten. Er sei also in keiner Form ein „Kryptojude“ gewesen. Alles Jüdische seiner Zeit sei für ihn mit dem christlichen Glauben und der Kirche unvereinbar gewesen. De Burgos instrumentalisierte Paulus nach seiner eigenen Bekehrung, um sein Verhältnis zum Christentum neu zu deuten. Er wollte den Dualismus zurückweisen, dass die Ablehnung des Gesetzes sich auf das Judentum der hebräischen Bibel beziehe. Nach seiner Auffassung sei die Zentralität des (christlichen) Glaubens schon in der hebräischen Bibel gegeben. Somit werde das Judentum der hebräischen Bibel zur älteren Form des Christentums und nicht zu dessen Antithese wie bei den christlichen Zeitgenossen des 15. Jahrhunderts. Für De Burgos war Paulus der Repräsentant dieses Judentums. Durch die christliche Lehre sei darum nach De Burgos das wahre Judentum besser und tiefer verstehbar. Auf diese Weise war für de Burgos Paulus umso tiefer in seiner jüdischen Tradition verwurzelt und damit ein Vorbild für die Conversos, die nun mit beiden Traditionen vertraut waren. Dieses tieferes Verstehen nach innen erlaubt es den Conversos, so de Burgos, gleichzeitig ihre Assimilation in die christliche Gesellschaft zu vollenden.

Im vierten und letzten Vortrag der Sektion stellte CLAUDE STUCZYNSKI (Bar Ilan University) an Hand der Schriften des portugiesisch-brasilianischen Jesuiten António Vieira (gest. 1697) eine katholische Perspektive des 17. Jahrhunderts vor, die die vorangegangen Interpretationen der vorgestellten jüdischen Konvertiten wieder aufnahm und gleichzeitig gängige, zeitgenössische Interpretation zu Paulus und der Rolle der Juden am Ende der Tage zurückwies oder doch zumindest in Frage stellte. Für Vieira war aus seiner christlichen Überzeugung die Erwählung Israels auf die Kirche übergegangen, wobei man sich nach der Prophezeiung des Propheten Daniel damit im Zeitalter des „fünften Königreichs" befände (Dan 2). Zwar hätten die Massenkonversionen des 14. Jahrhunderts eine Erwartungshaltung genährt, dass man einer Zeit entgegengehe, in der Juden und Heiden nach der Verkündigung des Paulus in einer Gemeinschaft leben würden. Die Teilung in „Alt-Christen“ und „Neu-Christen“ (getaufte Juden) zeigte für Vieira jedoch, dass Juden und Christen weiterhin, auch im fünften Königreich der Prophetie des Daniel unvermischt in Feindschaft leben würden (Dan 2, 40-43). Diese Separierung lehnte er ab. Er sah aber auch, dass in der weiteren Existenz der Juden die Separierung zwischen Juden und Heiden andauerte. Somit stellte er fest, dass die Separierung zwischen Juden und Christen weitergehen würde. Die Evangelisierung solle darum den übrigen Heiden gelten. Die Wiederherstellung der Juden würde sich nach seiner Auffassung gleichzeitig mit der Vollendung der Missionierung der Heiden ereignen. Was die Conversos betraf, so dachte er über eine Kategorisierung als „jüdische Christen“ nach dem Vorbild bei Paulus nach. Er verurteilte darum auch die Verfolgung und Bedrängung der Conversos durch die Inquisition. Die Zwangstaufe der Juden in Portugal wurde von ihm mit dem Linsengericht des Esau verglichen. Nach seiner Auffassung würde nur eine ersthafte und ernstgemeinte Bekehrung der Juden am Ende der Tage dazu führen, dass die Juden „zur hellsten Leuchte der Kirche“ würden.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Katrin Kogman-Appel (Münster) und Wolfram Drews (Münster)

Moderation: Wolfram Drews (Münster)

Jeremy Cohen (Tel Aviv University): From Scholastic Synthesis to Puritan Judeo-Centrism: Eschatological Jewry in the Writings of Thomas Aquinas and Thomas Brightman

Ram Ben Shalom (Hebrew University of Jerusalem): Paul in the Eyes of Profayt Duran: Constructing a Jewish Paul

Yosi Yisraeli (Hebrew University of Jerusalem): New Readings of Paul as a Jewish Convert in the 15th Century

Claude Stuczynski (Bar Ilan University): Father Antonio Vieira’s Paulinian Judeo-Gentile Interactions and the Conversos

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